Marianne Vlaschits. Der Hase war schuld | Ausstellungstext von Clemens Setz.

 

 

 

 

 

 

 

Since I can never see your face,

And never shake you by the hand,

I send my soul through time and space

To greet you. You will understand.

 

- James Elroy Flecker 

„To a Poet a Thousand Years Hence“

 

 

 

 

 

 

Wir wissen nicht, was passiert, wenn das Universum uns plötzlich liebgewinnt. Wir wissen nur, was passiert, wenn es uns ablehnt. Dann vergehen wir, relativ schnell. 

Alles da draußen wirkt so, als wäre es unser Gegenteil, unser Tod. Wir können dort draußen nicht atmen, nicht leben. Vor langer Zeit hat man uns aus Planet geknetet, und nun stehen wir da. 

In den Bildern der Werkgruppe Der Hase war schuld, der 1983 in Wien geborenen Künstlerin Marianne Vlaschits, sehen wir den Einbruch kosmischer Tropfen und Gestalten in die Ordnung einiger Planeten. In der Galerie Sophia Vonier werden fünf mittelformatige Ölgemälde und mehrere Kleinformate ausgestellt, allesamt aufgespannt auf irreguläre Rahmen, die den Betrachter an Denkblasen erinnern, an Meteoriten, an Eier. Marianne Vlaschits kennt das Universum sehr gut. Fast könnte man es für ihren geheimen Komplizen halten. Mir fällt keine andere österreichische Malerin der Gegenwart ein, die ihre Kenntnis der inneren Wirkkräfte des Weltalls und des menschlichen Lebens mit so viel Charme und zügelloser Wärme mitteilt. Viele ihrer bisherigen Arbeiten kreisten um Themen aus der Science Fiction, über Raumschiffe, Planeten, Monde, um Körper im All, um Wesen.  

Diese Wesen haben sich auch schon in ihren früheren Gemälden angesiedelt, manchmal nur am Rande, manchmal allein, ganz in ihr charakteristisches Formendasein versunken. Hier, in Der Hase war schuld sind sie nun die Hauptbevölkerung. Die sternübersäten Tropfen kommen, so wie die meisten Dinge, die über unser Schicksal bestimmen, von oben in die Welt dieser kecken Gestalten. Sie krümmen sich und kobolden lauthals umher, sie mümmeln und schnuppern aneinander, sie bilden Zahnarztbohrerschnauzen und horizontnahe Kräne. Sie stehen gemaßregelt da, sie verfangen und verwickeln sich, sie keimen, sie reifen und runden sich wie Käferrücken in der Sonne. Gefragt nach der Herkunft der Wesen, antwortet Marianne Vlaschits „vielleicht Genexperimente, vielleicht Chemieunfälle, eigensinniger Atommüll, Emojis, die keiner mehr versteht“. Was für eine ungeheure Vorstellung, denn Emojis, die keiner mehr versteht, implizieren ja auch Emotionen, die keiner mehr empfindet. Menschlos nachlodernde Gefühle im Universum, Echos eines einstigen Empfindungsreichtums. Ich stand eine Weile gebannt im Raum. Das kommt davon, wenn man sich mit Genies unterhält. Nun werde ich nie wieder Atommüll ansehen können, ohne zu denken: „eigensinnig!“ Gibt es überhaupt etwas Eigensinnigeres als Atommüll? Aber die Wesen, sagte ich zu Marianne Vlaschits, sie wirken auf mich so, als wären sie etwas ratlos gegenüber der unbegreiflichen Intervention, die über sie verhängt wurde; sie wirken müde, wie nach langen Jahren der Entbehrung. Die Antwort der Malerin lautete: „Ja. Irgendwann vor ewigen Zeiten hat eine Katastrophe stattgefunden. Jetzt warten sie auf etwas Neues.“ Also war ihre einstige Geburt möglicherweise eine Katastrophe? Sind sie vielleicht unsere halblebendigen Nachkommen? Das vielgestaltige, allmählich in ein eigenes Bewusstsein erwachsende Treibgut unserer früheren Bemühungen, uns auf der Erde zuhause zu fühlen? 

 

 

Nun, ihr Schicksal bleibt auf jeden Fall, wie unser eigenes, ungewiss. Denn vielleicht verhält sich das, was da auf die Planetenbewohner niedertropft, zu ihnen wie Antimaterie zu Materie - und das Rendezvous der Elemente wird ihrer beider endgültige Auslöschung sein. Einige haben schon vorsorglich begonnen, die neuartige Materie zu bannen, sich in sie zu wickeln, sie umzuleiten, zu erleben. Vielleicht ist das eine gute Idee, vielleicht aber auch Selbstgefährdung. 

Verraten uns die Titel der Bilder vielleicht etwas darüber, wie es mit den Wesen weitergehen kann? Das der Ausstellung den Gesamttitel verleihende Bild zeigt in der Tat eine Art Hasen, kugelrund und kompakt in seiner Schuld. Besonders fällt hier die Vergangenheitsform des Satzes auf: war schuld. Ist er es immer noch? Das Bild verrät nichts über die Fluidität oder Ankerhaftigkeit seiner Schuld. „Schulen über der Erde“ nennt sich ein Bild, in dem das Universum als behuftes Pferdebeinpaar auf dem Planeten stolziert, ein Titel, den man als Romancier am liebsten sofort stehlen würde, so kopfkinoanregend, so zum Weiterdichten reizend ist er. Die Titel dieser geheimnisvollen Bilder sind vielleicht die Schlüssellöcher, durch die wir ihre zeitliche Erzähldimension erahnen und weiterträumen können. 

Der Hase war schuld meditiert über die Gefahren der Vereinigung und die Erotik der Gegensätzlichkeit, über den würdevollen Slapstick planetarer Verhältnisse und die ekstatische Herrlichkeit, eine dreidimensionale Figur zu sein. Das Universum stellt sich plötzlich als hautnahe Substanz ein, umwirbt die Wesen, assimiliert sie vielleicht, kostet von ihnen. Manche Atmosphäre hat deshalb schon radioaktiv zu glühen begonnen, und Vulkane erwachen und äugen rot in die Runde. 

Oft wird darüber spekuliert, was eine Künstlerin mit einem bestimmten Werk sagen oder ausdrücken wollte. Die Überlegung ist nachvollziehbar, aber sie verdeckt die meist viel wichtigere Frage nach dem, was wir, die Betrachter, gerne zu dem Werk sagen würden, wenn es uns hören könnte. Nicht alle Kunst macht mitteilsam, aber es ist doch ein Merkmal der größten Kunstwerke, dass sie unsere Stummheit verscheuchen. 

 

Mich bringt Der Hase war schuld von Marianne Vlaschits jedenfalls dazu, mit den darin festgehaltenen Wesen sprechen zu wollen. Und die unauslotbare Seelentiefe dieser Bilder lässt eine Vorahnung des reichsten, buntesten Austauschs zu. Wie sie sich abmühen, wie sie sich formen lassen, wie sie dastehen, wie rufbereit, in ihrem jeweiligen Level; wie zu Bleigießfiguren geronnene Sehnsüchte und Begierden; wie Seelen. Ich bin ihnen verwandt. 

Was also würde ich ihnen gerne sagen? 

Ich weiß es. Es ist eine Strophe aus der Feder von Alfred M. Worden, der ins Guinness-Buch der Rekorde einging als isoliertester Mensch aller Zeiten: im Sommer 1971 befand er sich mehr als 4000 km von der nächsten Menschenseele entfernt. Er steuerte nämlich, der tapfere Geselle, die Kommandokapsel der Apollo 15 rund um den Mond, während James Irwin und David Scott unten mit dem Rover herumfuhren. Zurückgekehrt auf die Erde schrieb er dann einen kurzen Gedichtband, den bislang einzigen aus der Feder eines Astronauten, mit dem Titel Hello Earth. 

Also, liebe Gestalten, denen das Universum in den Alltag fließt, mit ungeahnten Folgen, hört mich an: 

 

While I love the scene around

My mind imagines, without bound,

Why I feel the call to roam

Could it be a Lunar Flight

in one small step towards home? 

 

 

 

 

 

Text: Clemens Setz

 

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